Es ist schon erstaunlich, wie unterschiedlich Menschen in bestimmten Situationen reagieren. Auf den ersten Blick sind die Rahmenbedingungen nahezu gleich. Das Umfeld und die bestehenden Restriktionen haben für beide die gleichen Auswirkungen und doch interpretiert jeder für sich die Chancen und Möglichkeiten völlig anders. Komisch, ist aber so.

Das, wovon ich in diesem Beitrag berichte, ist mir in der letzten Woche widerfahren. Ich coache einige Führungskräfte und Vertriebler und das seit Beginn des Lockdown natürlich ausschließlich online.

Letzte Woche hatte ich sowohl mit Günter als auch mit Thomas einen Termin und die Gespräche liefen völlig unterschiedlich.

Günter und Thomas sind beide Außendienstmitarbeiter. Beide sind Anfang fünfzig und obwohl sie nicht in der gleichen Firma und auch nicht in der gleichen Branche tätig sind, gleichen sich ihre Jobs schon sehr stark.

Selbstverständlich sind beide seit Mitte März im Homeoffice und versuchen dort, jeder auf seine Weise, den Hausarrest zu bewältigen.

Günter berichtet, dass er zunächst einmal die Dinge aufgearbeitet hat, die liegen geblieben waren. Noch nicht erledigte Angebote, Ablage, Reisekosten und noch ein bisschen Dokumentation.

Natürlich hält er per Telefon den Kontakt zu seinen Bestandskunden. Einfach mal ein bisschen plaudern, weil Projekte laufen ja im Moment sowieso nicht.

Angebotsverfolgung beziehungsweise das nachfassen bei den offenen Opportunities hat er kurz versucht aber dann schnell wieder sein gelassen. Die haben im Moment ja ganz andere Sachen im Kopf.

Die eine oder andere Anfrage kommt ja auch jetzt rein aber natürlich viel weniger als vor der Krise. Da kann er sich jetzt endlich mal Zeit nehmen, um die Kalkulation in Ruhe und nicht wie sonst immer zwischen Tür und Angel machen.

Dieses Social-Selling, das mit dem XING und diesem LinkedIn, das hat er mal ein paar Tage ausprobiert aber für ihn ist das nichts. Er selbst ist immer total genervt, wenn er von irgendwelchen wildfremden Menschen angeschrieben wird. Deshalb will es sich damit nicht beschäftigten.

So langsam kommt der Lagerkoller und die Motivation ist extrem im Keller. Es wird Zeit, dass er endlich wieder raus fahren kann. Lange hält er das im Home-Office nicht mehr aus und außerdem müssen ja auch wieder neue Aufträge hereinkommen. Wer weiß passiert, wenn die Auftragslage noch länger auf dem niedrigen Niveau bleibt…

Günter hat den Blues. Das kann ich in jedem seiner Worte hören und das kann ich in seinem Gesicht, trotz schlecht aufgelöstem Webcam-Bild, deutlich erkennen.

Meine Versuche ihn aufzurichten und zu motivieren scheitern und gehen in einem langen und tiefen Klage-Seufzer am Ende unseres Video-Calls beinahe unter.

Ganz anders Thomas. Auch er hat zu Beginn des Lockdown zunächst ein paar Dinge aufgearbeitet, ist aber, nachdem er sich mit der Situation im Home-Office arrangiert hat, relativ schnell in den neuen Modus übergegangen.

Auch ihm hatte ich Ende März im Online-Coaching den Social-Selling-Prozess vorgestellt und gedanklich den gesamten Prozess, vom ersten Kontakt bis zur Anfrage, durchgespielt. Das habe ihm gleich gut gefallen und so habe er sich tatsächlich fast jeden Tag hingesetzt, neue Kontakte gesucht und angeschrieben.

Über achtzig neue Kontakte hat er seit Anfang April in XING aufgebaut und am Anfang sei er noch richtig erstaunt gewesen, dass die neuen Kontakte so offen und kommunikativ waren. Mittlerweile wundert er sich schon nicht mehr, wenn nach der zweiten Nachricht eine freundliche Nachricht zurück kommt und der Gegenüber sogar von sich aus ein Telefonat vorschlägt.

Selbst, wenn er bei den neuen Kontakten, die auf die zweite Nachricht nicht geantwortet haben angerufen habe, dann sei er nicht abgewiesen worden. Alleine die Tatsache, dass man in XING vernetzt sei, würde schon Türen öffnen, die vorher fest verschlossen geblieben sind.

Und überhaupt hat er dort Kontakte zu Entscheidern geknüpft, die er teilweise schon über viel Jahre vergeblich versucht hat aufzubauen.

Nachdem die Kontaktaufnahme so gut geklappt hat, wurde Thomas mutig. Er hat sich getraut, anstatt der üblichen Vor-Ort-Termine Video-Sessions durchzuführen. Anfangs war es noch ungewohnt, mit Zoom oder Teams zu agieren aber nach den ersten zwei drei Terminen habe er sich sehr gut damit gefühlt. Die direkte und intime Atmosphäre, in der man Gestik, Mimik und Stimme einsetzen kann, verbunden mit der Möglichkeit über den geteilten Bildschirm auf Websites oder Präsentationen zuzugreifen und sogar ein Whiteboard zu nutzen, das sei schon toll.

Obwohl er keinen einzigen Außendiensttermin gemacht hat, hat Thomas im April und Mai neue Kunden und Projekte akquiriert. Auch er hat Rückgänge beim Auftragseingang, die sich aber dank seiner Aktivitäten in Grenzen halten.

Thomas ist fast schon euphorisch, gesteht aber zum Ende unseres Gesprächs, dass er sich darauf freut, auch mal wieder raus zu fahren und Gespräche bei seinen Kunden zu führen.

Ich verstehe Thomas sehr gut!

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Holger Steitz ist Berater, Trainer, Coach und Autor für Vertrieb, Social-Selling, Führung und Verhandlungstechniken im B2B-Umfeld und der Kopf von SALE DIRECT. Er trainiert und coacht Führungskräfte und Mitarbeiter im Vertrieb und unterstützt mit seiner SALE DIRECT GmbH B2B-Unternehmen bei der Entwicklung und Optimierung von Vertriebsstrategien und bei der Umsetzung von Konzepten zur Neukundengewinnung für erklärungsbedürftige Produkte und Dienstleistungen.

In dem im Haufe-Verlag erschienenen Fachbuch “Verkaufen ohne Tricks und Kniffe: Mit System zum B2B-Vertriebserfolg”, beschreibt Holger Steitz den kompletten Verkaufsprozess für Investitionsgüter und Dienstleistungen und gibt für alle Phasen Praxistipps für Einsteiger aber auch für Vertriebsverantwortliche in Unternehmen.

Sein aktuelles E-Book “Die ungefähr sieben ultimativen Tipps, um im Vertrieb zu scheitern” können Sie hier kostenlos downloaden.